© Arto Hanciogullari und T. Tsekyi Thür

Vesta- und Rochester-Schirme

Die breiten, meistens aus farblosem, weißem, undurchsichtigem Milchglas hergestellten Schirme sind meines Erachtens die typischen, sehr weit verbreiteten Schirme für alle Arten von Tischlampen, Hängelampen und Schiebelampen (= Studentenlampen). Aufgrund ihrer Form bereiten sie ein weiches, angenehmes, indirektes Licht in den Raum. Sie haben unten eine sehr breite Öffnung, die sogar so breit sein kann wie der Bauchdurchmesser des Schirms selbst. Dadurch fällt nach unten hin, zumindest in der Nähe der Lampe, ungefiltertes, direktes Licht, das Arbeiten, Lesen, Schreiben in diesem Bereich gut ermöglicht. Der Schirm verjüngt sich nach oben hin, entweder in einem konvexen Schwung, also leicht nach außen gewölbt wie eine etwas verflachte Kuppel, oder konisch ohne jedwede Wölbung, wie ein umgekehrter Trichter. Die obere Öffnung ist gewöhnlich viel kleiner als die untere, ist aber groß genug, um den Glaszylinder bequem durchzulassen. Die obere Öffnung verbreitet sich wieder etwas nach außen. Diese leichte, einer aufgegangenen Blume nicht unähnliche Verbreiterung kurz oberhalb der engsten Stelle hat den Sinn, den Schirm an dieser Stelle (an dem „Hals“) mit einer Hand leicht zu greifen und von der Lampe abzunehmen.

Die Schirme mit der nach außen gewölbter Form werden oft als „Vesta-Schirm“ bezeichnet. Der Name kommt von der römischen Göttin Vesta, die als Hüterin des heiligen Feuers und als Göttin von Heim und Herd verehrt wurde (Quelle: Wikipedia). Wild & Wessel haben ihre berühmte Schiebelampe (Nr. 1373) Vesta-Lampe genannt, die einen speziell für diese Lampe entworfenen Schirm aus Milchglas besaß. Vermutlich wurde diese Bezeichnung im Laufe der Zeit für alle anderen, ähnlich aussehenden Glasschirme verwendet. Dieser Tradition folgend verwende ich diese Bezeichnung für alle Schirme dieser Art, die unten einen dezidierten Kragen aufweisen. In den alten Katalogen tauchen bisweilen andere Bezeichnungen für diese Schirme auf. Ein oft verwendeter Begriff ist „Kuppelschirm“. Eine andere, überwiegend in Österreich verwendete Bezeichnung ist „Stürzel“. 

Die nicht gewölbten, konischen Schirme könnten auch eine Erfindung von Wild & Wessel sein, denn bei manchen Katalogen wird ihre Form als „W. & W.-Form“ bezeichnet. Nach meinem Gefühl scheinen sie sogar etwas früher auf den Markt gekommen zu sein als die gewölbten Formen. Viele kleinere Tischlampen sind in den Katalogen mit diesen konischen Schirmen bestückt. Offensichtlich haben sie keinen besonderen Namen. Ich nenne sie „konischer Vesta-Schirm“, auch wenn diese Bezeichnung etwas danebengegriffen ist.

Die Vesta-Schirme wölben sich kurz unterhalb ihres Bauchs (also unterhalb ihrer breitesten Stelle) leicht nach innen und enden dann mit einem ca. 1 cm hohen, senkrechten Kragen, damit sie sicher in den Schirmhalter eingesetzt werden können. Die Schirmgröße wird mit dem Durchmesser dieses Kragens (= Kragenweite) angegeben. Es gibt neu produzierte Vesta-Schirme ab 105 mm bis zu 300 mm Kragenweite (in Europa). Die einzigen Anbieter in Deutschland sind www.hytta.de und www.pelam.de (zum Teil sogar aus farbigem Glas). Die konischen Vesta-Schirme haben meist eine Kragenweite von 190 und 210 mm und sind heute sehr selten zu finden; sie werden nicht neu hergestellt. Die Vesta-Schirme der amerikanischen Lampen haben gewöhnlich 7 Zoll (knapp 180 mm), oder 10 Zoll (ca. 250 mm) Kragenweite. Die 10 Zoll-Schirme aus USA passen nicht in die europäischen Schirmhalter.

Für die großen Hänge- oder Standlampen hat man selbstredend größere Schirme entworfen, die meistens – analog zu den klassischen Vesta-Schirmen - kuppelähnlich gewölbt sind. Diese Schirme haben jedoch keinen Kragen; sie sind nach unten kuppelähnlich verbreitet, und der untere Rand ist gleichzeitig die breiteste Stelle. Das ist der einzige Unterschied zu den Vesta-Schirmen. Diese Vesta-ähnlichen Schirme ohne Extrakragen werden „Rochester-Schirm“ genannt. Der Name kommt wahrscheinlich von der amerikanischen Lampenfabrik Rochester Lamp Co., die seinerzeit der größte und bekannteste Lampenhersteller in den USA war. Die Bezeichnung wurde dann auch für die entsprechenden europäischen Schirme übernommen. Rochester-Schirme in Europa haben Durchmesser bis 400 mm. www.hytta.de bietet neu hergestellte Rochester-Schirme von 275 bis 330 mm im Durchmesser. Die amerikanischen Rochester-Schirme wurden auch gerne in kleineren Tischlampen eingesetzt, daher haben sie entweder 10 Zoll (für Tischlampen) oder 14 Zoll (ca. 355 mm; für Hängelampen) Durchmesser. Die obere Öffnung der Rochester-Schirme ist fast immer glatt ohne Wellen.

Eine Abart der Rochester-Schirme sind die Schirme für Schiebe- oder Studentenlampen. Diese Schirme sind relativ schmal bis max. 175 mm Kragenweite, sind im unteren Bereich eher zylindrisch als kuppelähnlich-gewölbt und oft in grüner bis dunkelgrüner Farbe.

 

Vesta- und Rochester-Schirme (angegebene Größe ist die Kragenweite)
Obere Reihe, von links: Klassischer Vesta-Schirm, konvex gewölbt, 235 mm
Konischer Vesta-Schirm, 210 mm
Amerikanischer Vesta-Schirm aus geprägtem Glas, 250 mm
Untere Reihe, von links: Amerikanischer, bemalter Rochester-Schirm, 250 mm
Hellgrüner Rochester-Schirm für Hängelampen, Veritas, Großbritannien, 300 mm
Grüner Schiebelampen-Schirm aus Großbritannien, 150 mm

 

Die wirklich alten Schirme kann man von den wesentlich jüngeren, erst in den letzten Jahrzehnten hergestellten Schirmen leicht unterscheiden. Die alten Schirme haben oben einen „glatt umbördelten“ Öffnungsrand. Das ist folgendermaßen zu beschreiben: Die Öffnung verbreitert sich rasch nach außen, um mit einem horizontalen Randbereich zu enden. Der äußere Saum des Rands ist dann kurz nach unten gedreht und flach „umbördelt“.  Die neuen Schirme haben meist eine völlig anders aussehende Öffnung, deren Rand mehr oder minder schräg nach oben breiter wird. Außerdem ist der Saum des Rands niemals flach nach unten geknickt.

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal liegt in der Bearbeitung des Glases. Das Glas eines alten Schirms ist durchgängig weiß, besteht also aus einer Glassorte. Die neueren Schirme bestehen dagegen aus zwei Glasschichten; die weiße Milchglas-Schicht hat man mit einer zweiten Schicht aus transparentem, farblosem Glas überfangen. Man hat dadurch Kosten eingespart, obwohl die Herstellung dieser Schirme einen Vorgang mehr benötigt. Die beiden Glasschichten kann man am besten an den plangeschliffenen Rändern der oberen und unteren Öffnung erkennen. Auch ein Strich mit einem dunklen Filzstift auf der äußeren Wand lässt einen klar erkennbaren Schatten auf das innen liegende Milchglas entstehen.

 

Unterscheidung alter und neuerer Vesta-Schirme
Obere Reihe: Alter Vesta-Schirm mit glatt umbördeltem Oberrand (Milchglas aus einer Schicht) und dem Filzstift-Test
Untere Reihe: Neuerer Vesta-Schirm mit plan-geschliffenem Oberrand (Milchglas, farblos und transparent überfangen) und dem Filzstift-Test

 

Es gibt allerdings Schirme mit einer oberen Öffnung, die anstatt eines glatten Randes einen gewellten Rand aufweist und der Schirm damit ein verspieltes, dem Jugendstil eher angepasstes Aussehen bekommt. Noch verspieltere Öffnungen sind sogar zweifach gewellt: Der Rand hat die übliche Form einer breiten Welle, und die Ränder der großen Wellen sind nochmal gerüscht, diesmal viel kleiner und sehr zahlreich (wie der gerüschte Saum eines Damenrocks). Diese Wellenart nenne ich „gewellt und gerüscht“. Diese Form wird in der Literatur manchmal auch „Röckchen-Form“ genannt.

 

Verzierungsformen des oberen Randes
Obere Reihe, von links: Einfach breit gewellt - Mehrfach klein gewellt – Geriffelt bzw. mehrfach eingekerbt
Untere Reihe, von links: Nur gerüscht – Gewellt und gerüscht, mit grün abgesetztem Rand – Röckchen-Form

 

Neben den farblosen, opak-weißen Schirmen gibt es auch farbige, die normalerweise durch das „Überfangen“ einer opak-weißen Milchglas-Schicht mit einer farbig-transparenten Glasschicht angefertigt werden. Die innenliegende Glasschicht muss ja immer opak-weiß sein, damit das Licht der Flamme ohne Abschwächung nach unten reflektiert wird. Meines Wissens waren die alten farbigen Vesta-Schirme entweder hellgrün (z.B. Jugendstil-Schirme mit gewelltem Oberrand) oder dunkelgrün (vorwiegend für die Schiebelampen). Andersfarbige Vesta-Schirme sind wohl eine Erfindung der neueren Zeiten, vermutlich ab ca. Mitte des vorigen Jahrhunderts als Vesta-Schirme für die elektrischen Tisch- und Hängelampen im heimeligen Petroleumlampen-Stil. Man kann sie allerdings auch bei den konventionellen Petroleumlampen einsetzen. Mittlerweile gibt es Schirme in allen Schattierungen von Rot, Orange, Gelb, Dunkelgrün, Hellgrün, Türkisgrün, Hellblau, Hellbraun, sogar Violettrot und Dunkelblau. Je dunkler die Glasfarbe ist, umso weniger Licht verbreitet die Lampe im restlichen Raum. Am angenehmsten sind die heller nuancierten Schirme in Hellcremegelb bzw. Hellbernsteingelb. Solche Schirme aus neuerer Herstellung gibt es auch in fein geschnittenem, farblosem Kristallglas oder in transparentem Glas mit bedruckten Motiven. Es ist natürlich Geschmackssache, ob man für eine alte Lampe von ungefähr 1900 einen farbigen Vesta-Schirm aus neuerer Produktion auswählt, der die Authentizität der Lampe doch etwas stört. Trotzdem habe ich einige Lampen mit solchen farbigen Schirmen aus späterer Herstellung in meiner Sammlung.

 

Farbige bzw. Kristall-Vesta-Schirme neuerer Herstellung

 

Die Vesta-Schirme und ihre Varianten waren die bevorzugten Schirme für die Lampen aus Deutschland und Österreich. In der Zeit des Jugendstils, so um 1900 bis 1920, hat man Schirme entwickelt, deren Form von dem oben beschriebenen, klassischen Vesta-Schirm etwas abweicht. Zum Beispiel, die normalerweise konvexe Wölbung des Vesta-Schirms wurde mit einer eckigeren Form ersetzt, oder der normalerweise recht kurze Halsbereich wurde in die Länge gezogen. Sehr viele Vesta-Schirme mit einer Jugendstil-Form besitzen einen gewellten Oberrand, oft auch in Röckchen-Form.

Die schönste Version der Vesta- und Rochester-Schirme und deren unterschiedlich geformten Varianten ist sicherlich der handbemalte Schirm. Insbesondere im Jugendstil hat man die weißen Schirme fantasievoll und mehrfarbig bemalt. Die dominierenden Motive waren Blumen, Pflanzen und Vögel, zum Teil ergänzt mit Girlanden und anderen schönen Zierlinien. Diese Schirme sind heute sehr begehrt und entsprechend teuer. Die neueren Versionen sind nicht bemalt, sondern bedruckt. Mit Blumenmotiven bedruckte Vesta-Schirme (wie auch die klassischen weißen oder farbigen Schirme) kann man im online-Handel beziehen. Die alten, bemalten Schirme muss man dagegen in Antiquitätengeschäften kaufen (sofern sie welche anbieten) oder bei eBay ersteigern. Ich habe manchmal eine recht banale Tischlampe nur deswegen gekauft, weil sie einen original alten, bemalten Jugendstil-Schirm besaß…

 

Handbemalte Vesta-Schirme mit Jugendstil-Formen
Vorletzter Schirm: Schreiber & Neffen, Wien